Populismus

31. Januar 2020 von H. Wittmann



Ergänzt am 17. Dezember 2023:

Paula Diehl > Was ist Populismus? – bpb Bundeszentrale für politische Bildung, 28.1.2018: „Populismus kann als eine besondere politische Logik definiert werden. Im Zentrum steht die Idee, dass die Macht dem Volke gehört und dass die Politik Ausdruck des Volkswillens sein soll. Populismus idealisiert das Volk und baut Feindschaft zur Elite auf. Hier fungiert der Führer als Stimme des Volkes. Populismus erzählt die Geschichte des von der Elite betrogenen Volkes:…“.

Ergänzt am 31.1.2020.

S. auch > #Corona-Virus, #Covid19 und die Verschwörungstheorien – 2. September 2020 von H. Wittmann

Kaum ein anderes Wort in den letzten Jahren hat die Parteienlandschaft in vielen Ländern der EU oder auch in den USA, sowie beim Brexit so geprägt, wie das des Populismus. Wenn Jean-Luc Mélenchon (La France insoumise) auf seinem Blog mit dem Titel > L’ère du peuple die Wut des Volkes ausdrücken will, so zeigt er, wie es sich die Populisten gerne für sich in Anspruch nehmen, das Volk zu vertreten, an das sie sich nicht nur wenden, sondern in dem sie möglichst häufig so tun, als wenn sie seine Stimme wären. Dazu gehören u. a. auch Halbwahrheiten, aus denen politische Forderungen abgeleitet werden.

Am 14.1.2020 steht auf Mélenchons Blog unter dem Titel > Retraites : La France insoumise propose une motion de censure contre le gouvernement: „Depuis 40 jours, le pays connaît un mouvement social sans précédent. La réforme des retraites proposée par le gouvernement rencontre un rejet massif de la population. Les Français ne sont pas dupes. Ils savent que le système par points proposé par Macron n’est ni universel, ni juste. Il ne répond pas aux problèmes qui se posent : les gens partent trop tard et trop pauvres en retraite.“ Der erste Satz „Depuis 40 jours…“ ist eine Aussage. Der zweite Satz behauptet, die Rentenreform würde massiv abgelehnt werden… der dritte Satz: „Les Français ne sont pas dupes,“ gibt zu verstehen, wer zustimme, sei > „dupe„, das will doch  niemand sein: die Versuchung ist dann groß das zu glauben, was der Betrug sein soll. Der vierte Satz „Ils savent…“ gibt vor, dass ganz Frankreich wissen, dass das von Macron vorgeschlagene Punktesystem ungerecht sei… und dann folgt eine Verdrehung aller Perspektiven: Zu spät gehen die Leute in Rente und sie seien viel zu arm. Alle Forderungen nach frühem Renteneintritt und hoher Rente sind zweifelsohne populär. Populistisch werden sie, wenn unrealistische Versprechungen gemacht werden, oder Forderungen aufgestellt werden, die auf falschen Voraussetzungen beruhen. Die Forderungen bringen Stimmen, füllen aber nicht die Rentenkassen.

> Die Rentenreform in Frankreich und der Streik ab 5. Dezember 2019 – 6. Januar  2020
> Faktencheck: 61 % fordern in Frankreich die Aufgabe der Rentenreform – 26. Januar 2020

Die Prekarität der Renten ist ein zweifellos ein brisantes Thema – auch für die Regierung. Die Herabsetzung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre unter François Mitterrand und dann auch noch die Einführung der 35 Stundenwoche unter Lionel Jospin haben zu der heutigen Schieflage der Rentensysteme in Frankreich beigetragen, wobei die 40 unterschiedlichen Rentensystem ihren Teil dazu beisteuerten. Jede Wiederheraufsetzung ist unpopulär aber von der Füllhöhe der Rentenkassen geboten. Am 17. Dezember 2014 hatte auch der heutige Rassemblement national erkannt, dass ein Defizit der Rentenkassen droht und gab eine Pressemitteilung heraus: > Trou de 11 Milliards en 2018 : les déficits des régimes de retraite se résorberont quand le nombre d’emplois augmentera: „En cela, la solution d’attendre depuis 2008 que la croissance revienne comme par miracle n’a aucun sens. Il est nécessaire d’être courageux et de retrouver nos moyens de relance de l’économie que sont la monnaie nationale, un Etat stratège, un patriotisme économique et un protectionnisme intelligent. Sans cela, l’âge de départ à la retraite ne cessera d’être augmenté et les retraites seront sans cesse rognées.“ Das klingt nach Zuversicht und Engagement… allerdings ohne konkrete Maßnahmen, denn „ein „patriotisme économique“ ist nur eine Worthülse. In ihren > Les 144 engagements présidentiels schrieb Marine Le Pen noch: “ 52: Fixer l’âge légal de la retraite à 60 ans avec 40 annuités de cotisations pour percevoir une retraite pleine.“ Diese Vorschläge sind auch interessant hinsichtlich Le Pens Vorstellungen bezüglich der EU: „1. Retrouver notre liberté et la maîtrise de notre destin en restituant au peuple français sa souveraineté (monétaire, législative, territoriale, économique). Pour cela, une négociation sera engagée avec nos partenaires européens suivie d’un référendum sur notre appartenance à l’Union européenne. L’objectif est de parvenir à un projet européen respectueux de l’indépendance de la France, des souverainetés nationales et qui serve les intérêts des peuples.“ Das klingt nach den britischen Populisten, die auch von neuer Bewegungsfreiheit gesprochen haben. Und wieder wird das Volk gerufen, dem seine Souveränität zurückgegeben werden soll, die im folgenden Satz als Ziel seines Strebens erklärt wird.

Frank Dikötter
> Diktator werden
Populismus, Personenkult und die Wege zur Macht
Aus dem Englischen von Heike Schlatterer (Orig.: How to be a Dictator)
1. Aufl. 2020, ca. 368 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98189-6
Erscheint am 22.2.2020 bei Klett-Cotta

Heute sieht das Wahlprogramm von Marine le Pen so aus: Jetzt heißt es > Pour une Europe des nations, und „Alliance Européenne des Nations“ (S. 3.): Das altbekannte Gedankengut ist immer noch da:“L’Union Européenne a fait de l’Europe le laboratoire de l’idéologie mondialiste et de son corollaire le libre échangisme, la doc-trine qui fait du nomadisme planétaire, de la mobilité économique, du déracinement des hommes, de la concurrence généralisée les fondements d’une société marchande universelle.“ (S. 12)  Der Vergleich dieser 175 Seiten von 2019 mit den 144 Vorschlägen von 2017 ist lehrreich. Die Forderung nach einem Frexit ist aufgegeben: „L’Europe n’est pas une construction idéologique au service d’un projet mercantile mais une réalité vivante au sein de laquelle les citoyens de chaque pays doivent trouver avec la sécurité, la capacité d’agir, d’entreprendre, de s’épanouir et de transmettre“. Trotz einer augenscheinlich so gemäßigt erscheinenden Ansichten: Die Standardthemen des RN sind nicht aufgegeben. Auf Seite 54: „Elle (la civilisation européenne, w.) est menacée par l’idéologie du nomadisme dont l’immigration de masse en est une manifestation, idéologie qui impose un modèle déraciné d’exploitation des territoires sans transmission et sans responsabilité.“ Und auf S. 10: “ La paix en Europe procède de la Guerre froide, de l’équilibre nucléaire et du désarmement de l’Allemagne. C’est l’échec de l’Union Européenne à défendre les peuples européens dans la mondialisation et son mépris des identités nationales qui, au contraire, réveillent passions nationales et rivalités historiques.“  Der Erfolg der langen Friedensicherung in Europa ist auch der deutsch-französischen Aussöhnung geschuldet. Und der Appell an ein diffuses Gefühl, man bezahle immer zuviel, wird auf S. 23 Europa verantwortlich gemacht: „Trop de citoyens ont le sentiment de payer pour tout et tous. Trop d’Européens ressentent que la justice, la vérité, le respect, tout ce qu’ils croient et tout ce qu’ils aiment, sont bafoués au nom même d’une Union qui rend l’Europe folle. Cette colère des peuples est juste, salvatrice et nous enjoint de libérer l’Europe des puis-sances qui l’exploitent, des logiques qui l’asservissent, des idéologies qui ont décidé sa dilution.“

Zum Populismus gehören einfache politische Aussagen, die als wahre Behauptung daherkommen und durch Wiederholung nicht wahrer werden. Die Ankunft der Migranten in großer Zahl 2015, allgemein in den Medien als Flüchtlingskrise bezeichnet, gipfelte in dem vielfach wiederholten Vorwurf, Bundeskanzlerin Merkel habe die Grenzen geöffnet. Offene Grenzen kann man nicht öffnen und das einfache Schließen, dessen Unterlassung man der Bundeskanzlerin hätte vorwerfen können, ging ohne Rechtsbruch auch nicht so einfach. Aber der komplizierte Sachstand wurde von den Populisten gerne vereinfacht und so entstand die Mär von der Grenzöffnung. > Nachgefragt: Stephan Detjen, Maximilian Steinbeis, Die Zauberlehrlinge. Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch

Stephan Detjen, Maximilian Steinbeis
> Die Zauberlehrlinge
Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch
1. Aufl. 2019, ca. 176 Seiten, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-608-96430-1


Die Warnung vor Migration, die bei der AfD schnell zur „Massenmigration“ wird, verbindet Beatrix von Storch (MdB, AfD) mit ihrer Kritik am Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung (22.1.20120) im Zusammenhang mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das am 1. März 2020 in Kraft treten soll: Von Storch > Beatrix von Storch: Merkel will jetzt ganz offiziell Deutschland zu einem Einwanderungsland machen:  „„Merkels Masseneinwanderung soll jetzt mit dem Aktionsplan der Bundesregierung als Zukunftslösung für Deutschland verkauft werden. Die GroKo nennt es einen ‚Paradigmenwechsel‘. Das wäre er auch, wenn es uns als AfD nicht gelänge, die Massenmigration zu stoppen. Woran Deutschland jetzt schon leidet, würde dann völlig außer Kontrolle geraten: Parallelgesellschaften, Clans, Kinderehen, Ehrenmorde, Niedriglöhne und unzumutbare Belastungen für unsere Schulen und Sozialsysteme.“ Angstmacherei und unrealistische Lösungsvorschläge: „Durch die Rationalisierung und Digitalisierung werden in den kommenden Jahrzehnten Millionen von Arbeitsplätzen verschwinden. Auch Tätigkeiten, die bisher als nicht ersetzbar galten, können von Robotern übernommen werden, wie auch das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung feststellt.“

Gleichmal ein Faktencheck:

> Die Digitalisierung wirkt sich regional unterschiedlich aus IAB aktuell, 12.9.2019: „Mit der fortschreitenden Digitalisierung können immer mehr berufliche Tätigkeiten von Computern oder computergesteuerten Maschinen erledigt werden. In den letzten Jahren haben sich diese Substituierbarkeitspotenziale in fast allen Berufen erhöht. Allerdings gilt dies für die Regionen in Deutschland in höchst unterschiedlichem Maße. So ist in Berlin jeder siebte, im Kreis Dingolfing-Landau jeder zweite Arbeitsplatz potenziell betroffen. Ein hohes Substituierbarkeitspotenzial weisen vor allem die Regionen auf, in denen viele Menschen im Verarbeitenden Gewerbe tätig sind. […] Dies bedeutet allerdings nicht, dass tatsächlich ein Viertel der Arbeitsplätze wegfallen wird. Denn dass eine Tätigkeit als substituierbar eingestuft wird, heißt nicht automatisch, dass sie künftig nur noch von Computern und computergesteuerten Maschinen erledigt wird. Das Substituierbarkeitspotenzial sagt lediglich etwas über die technische Machbarkeit aus. Ob dieses Potenzial auch ausgeschöpft wird, hängt von einer Reihe anderer Faktoren ab.

Ethische oder rechtliche Hindernisse, Kostenüberlegungen oder Präferenzen auf Kundenseite können den Einsatz neuer digitaler Technologien verhindern. So wird es weiterhin Handwerksbäckereien geben, wenn Verbraucher ein handgebackenes Brot mehr wertschätzen als ein maschinell gefertigtes. Zudem entstehen mit der Digitalisierung neue Produkte und Dienstleistungen. Dadurch können neue Arbeitsplätze geschaffen werden, weil die neuen Maschinen und Roboter gebaut und gewartet werden müssen. Außerdem kann die Nachfrage nach Produkten steigen, weil durch den Einsatz neuer Technologien Preissenkungen möglich sind.“


 

La Grande table idées par Olivia Gesbert – 13.1.2020:
> Populisme, l’affaire du siècle ?
„Il s’intéresse à la théorie manquante du „populisme“, une culture politique originale qu’il convient d’analyser de manière critique : Pierre Rosanvallon, Professeur au Collège de France et auteur de l’essai „Le siècle du populisme“ (Seuil, 2019), est notre invité:“

Pierre Rosanvallon ist Professeur am Collège de France, wo er den Lehrstuhl > Histoire moderne et contemporaine du politique (2001-2018) innehat. Er ist Heraugeber in Kooperation mit Le Seuil von > La République des idées

Le Tour du monde des idées par Brice Couturier
> La rhétorique du populisme – France-Culture -28.1.2019

> Nachgefragt: P. Leo, M. Steinbeis, D.-P. Zorn, Mit Rechten reden – 21. Februar 2018

Mit ihnen reden, sie stellen, ihre Argumente untersuchen, ganz einfach ihnen zeigen, dass sie mit ihren Parolen nicht durchkommen, unaufgeregt aber hart in der Sache mit ihnen streiten und dabei unsere Streitkultur renovieren, die auch unter der GroKo gelitten hat, das alles wird die Neurechten am besten wieder zurückdrängen. Das ist die Quintessenz aus diesem Buch und aus unserem Gespräch, in dem Per Leo sehr einleuchtend seine und die Argumente seiner Mitautoren Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn erklärt hat: > Nachgefragt: P. Leo, M. Steinbeis, D.-P. Zorn, Mit Rechten reden – 21. Februar 2018  – Von Heiner Wittmann
Per Leo, Maximilian Steinbeis, Daniel-Pascal Zorn

> Mit Rechten reden
Ein Leitfaden
1. Aufl. 2017, 183 Seiten, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-608-96181-2
> Nachgefragt: Daniel-Pascal Zorn, Logik für Demokraten

Unsere Fragen:Angesichts des Erstarkens der Rechtspopulisten wie die AfD, möchten Sie die Demokraten stärken bei uns für den Dialog vonn neuem fit machen. > Logik für Demokraten lautet der Titel Ihres jüngst bei Klett-Cotta erschienenen Buches. Sie verstehen es als eine Anleitung – wozu?
Wie lautet Ihre Diagnose, wenn sie die Qualität des demokratischen Diskurses in der Bundesrepublik betrachten?
Auf dem Klappentext Ihres Buches steht: „Demokratie verpflichtet. Uns alle. Offen sein, zuhören, argumentieren!“ Reicht das?

Daniel-Pascal Zorn
> Logik für Demokraten. Eine Anleitung
Stuttgart: Klett-Cotta, 1. Aufl. 2017, 314 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-608-96096-9

Auf unserem Blog:

Bibliographie > Populismus:

Der Tipp unserer Redaktion:
L’observatoire du conspirationnisme : > www.conspiracywatch.info ***

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