Das „Fürstentum Birkenfeld“ in Henri Meilhacs „Gesandtschaftsattaché“ II
Mittwoch, 5. Februar 2025Zwischen Fiktion und Realität: das „Fürstentum Birkenfeld“ in Henri Meilhacs „Gesandtschaftsattaché“ (1863), die literarische Vorlage für Lehárs Operette „Die lustige Witwe“ – lautet die Überschrift von Otmar Seuls neuem historischen Aufsatz.
Das Schloss in Birkenfeld, Regierungsgebäude des Fürstentums Birkenfeld im Großherzogtum
Oldenburg, in einem Gemälde von C. Hesse, 1888. (Landesmuseum Birkenfeld, Repro Gerhard Ding)
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Die Urmutter der „Lustigen Witwe“ in Franz Lehárs weltberühmter Operette von 1905 war eine „fiktive Birkenfelderin“! Zu dieser überraschenden Erkenntnis ist Otmar Seul, Mitglied des Vereins für Heimatkunde im rheinland-pfälzischen Landkreis Birkenfeld, im Verlauf von Forschungen in französischen Archiven gekommen. Der in Birkenfeld aufgewachsene emeritierte Professor für deutsche Rechtssprache und Zeitgeschichte an der Universität Paris Nanterre hat seine These 2022 in Heft 68 der „Saargeschichten“ des Saarbrücker Magazins zur regionalen Kultur und Geschichte eingehend dargelegt, unter dem Titel: „Eine Satire, eine Operette und die Politik“. Bezugsquelle für Seul ist die Boulevardkomödie „Der Gesandtschaftsattaché“ von Henri Meilhac, die im Oktober 1861 im Pariser Théatre du Vaudeville ihre Premiere feierte.
Mitglied der französischen „Gelehrtenakademie“ (Académie française) – mit ihren 40 auf Lebenszeit berufenen Mitgliedern, den „Unsterblichen“ -, gilt Meilhac als einer der schöpferischsten Librettisten seiner Zeit. Internationale Aufwertung erhält der „Gesandtschaftsattaché“ 44 Jahre später als Vorlage für das Libretto der 1905 in Wien uraufgeführten „Lustigen Witwe“. Hierbei aber werden story und zentrale Figur, die umworbene Bankierswitwe Madeleine Palmer, dem Zeitgeist angepasst. Bei Meilhac, also im Frankreich Napoleons III., werden die traditionelle Form der Ehe und ihre geschlechtsspezifische Rollenzuteilung noch niçht hinterfragt. Lehárs Librettisten hingegen verleihen der Bankierswitwe (Hanna Glawary) bereits emanzipatorische Züge, nehmen mithin die entstehende Frauenbewegung schon als soziales Phänomen wahr. Aber sie wechseln auch den Schauplatz der Handlung. Sie spielt jetzt nicht mehr in der Pariser Botschaft des „Fürstentums Birkenfeld“, sondern in der diplomatischen Vertretung des Fantasiestaates Pontevedro auf dem Balkan. Ein Kontext im Umfeld der Donaumonarchie, ist dem Wiener Publikum leichter zu vermitteln als eine ihm unbekannte, ferne Exklave des Großherzogtums Oldenburg. Ursprünglich ist als Handlungsort sogar die Pariser Botschaft des real existierenden südslawischen Fürstentums Montenegro vorgesehen. Doch angesichts der starken Spannungen auf dem Balkan infolge der ungelösten Nationalitätenfrage (die bekanntlich 1914 zum Ausbruch des 1. Weltkrieges beitragen), verwerfen die österreichisch-ungarischen Zensurbehörden diese Idee, um drohenden diplomatischen Zwischenfällen und Konflikten mit den panslawistischen Bewegungen zu vermeiden. Ähnliche politische Überlegungen muss Meilhac schon bei der Konzeption seines „Gesandtschaftsattachés“ anstellen. Um die Zensur zu passieren, verlagert er seine Posse über das Diplomatenmilieu in eine fiktive ausländische Botschaft, die keine Assoziation mit einem real existierenden Staat zulässt. Da von ihm selbst keinerlei Äußerungen vorliegen, die erhellen, aus welchen Gründen er seine Satire einem „Fürstentum Birkenfeld“ andichtet, kommen wir niçht umhin, einen Erklärungsansatz aus der napoleonischen Diplomatie und Außenpolitik abzuleiten. Um sich jenseits des Rheins die Rivalität zwischen Österreich und Preußen um die Vorherrschaft in Deutschland zunutze zu machen und sich alle Bündniskonstellationen offen zu halten, sieht sich der Kaiser zur diplomatischen Rücksichtnahme selbst auf die Kleinststaaten des Deutschen Bundes gezwungen: können sie doch als Alliierte eines der beiden von Napoleon III. umworbenen Rivalen jederzeit auch als Bündnispartner Frankreichs in Betracht kommen. Diplomatische Verwicklungen aber muss Meilhac mit dem Bezug auf Birkenfeld nicht fürchten: es ist kein souveräner Kleinststaat, sondern lediglich eine Verwaltungseinheit eines Großherzogtums. Mit der Apostrophierung als „Fürstentum“ honoriert Oldenburg die historischen Verdienste von „Burg Birkenfeld“ für die dynastischen Beziehungen der deutschen Einzelstaaten während des über 800 Jahre währenden mittelalterlichen und neuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation.
Kann Meilhac in seiner Posse über das Diplomatenmilieu seiner Fantasie freien Lauf lassen, ohne Sensibilität für die historischen Gegebenheiten in Bezug auf Birkenfeld? Wir stellen die künstlerische Freiheit nicht in Frage. Mit unserem Anliegen, die Trennlinien zwischen Realität und Fiktion auszumachen, aber stoßen wir in historische Dimensionen vor, die für die heimatkundliche Forschung Neuland sind: es gilt die Verfasstheit und Entwicklung des zu Oldenburg gehörenden „Fürstentums Birkenfeld“ im Spannungsfeld von Bismarcks Nationalstaatspolitik und Napoleon III. europäischen Hegemoniebestrebungen nachzuvollziehen.
*Otmar Seul hat seinen Essay der fiktiven und realen Bezüge von Lehárs weltberühmter Operette zu Birkenfeld mittlerweile abgeschlossen. Er wurde im September 2024 in Band 71 der Saarbrücker Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend in voller Länge veröffentlicht: unter dem Titel „Das Fürstentum Birkenfeld in Henri Meilhacs Komödie ‚Der Gesandschaftsattaché‘ (1861). Zur geschichtlichen Einordnung der literarischen Vorlage für Franz Lehárs Operette ‚Die lustige Witwe‘ (1905)“. Der 44-seitige Text kann im Landesmuseum Birkenfeld beim Museumsleiter Hisso von Selle eingesehen werden. Der in Heft 68 der „Saargeschichten“ des Saarbrücker Magazins zur regionalen Kultur und Geschichte bereits 2022 erschienene Teilauszug unter dem Titel: „Eine Satire, eine Operette und die Politik“ kann online gelesen werden: /wp-content/uploads/2024/09/SG_3_22_8.15.pdf. Der Journalist Axel Munsteiner hat ihn in der Nahe-Zeitung vom 9.11.2022, einer Regionalausgabe der Koblenzer Rhein-Zeitung, „ausführlich und trefflich besprochen“ (Seul).
Auf unserem Blog > Otmar Seul, Eine Satire, eine Operette und die Politik. Das Fürstentum Birkenfeld in Henri Meilhacs Komödie »Der Gesandtschaftsattaché« (1861) und seine Bearbeitung in Lehárs Operette »Die lustige Witwe« (1905). – 22. September 2024