Nachgefragt: Ministerpräsident Winfried Kretschmann antwortet auf unsere Fragen
Montag, 17. Oktober 2016france-blog.info hat den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, nach seiner Rückkehr aus Paris um ein Interview gebeten. Das Interview wurde schriftlich geführt:
Herr Ministerpräsident, Sie kommen gerade von einer Reise nach Paris zurück, bei der Sie auch Premierminister Manuel Valls und u. a. auch die Ministerin für Umweltfragen, Ségolène Royal, getroffen haben. Welches sind für Sie die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Reise?
Ministerpräsident Kretschmann: Eines der wichtigsten Ergebnisse der zahlreichen Gespräche, die ich in Paris geführt habe, war ein Fahrplan für die Abschaltung des Atomkraftwerks Fessenheim.
Ministerpräsident Kretschmann:
"Die deutsch-französische Beziehung ist nicht nur die enge Beziehung zweier Staaten, sie ist zugleich das Herzstück und der Motor der Europäischen Union und der Europäischen Einigung als Idee. Europa kann jedoch nur Erfolg haben, wenn es von seinen Bürgerinnen und Bürgern vor Ort mitgetragen und gelebt wird." |
Daneben standen die Flüchtlingspolitik, die aktuelle Lage in Europa und eine weitere Vertiefung der Beziehungen zwischen Frankreich und Baden-Württemberg auf dem Programm. Auch bei dem für uns so wichtigen Abschluss eines völkerrechtlichen Abkommens über die gemeinsame deutsch-französische Wasserschutzpolizei auf dem Rhein sind wir einen großen Schritt vorangekommen und hoffen, dass das Abkommen in Kürze geschlossen werden kann.
france-blog.info: Die Zeitungen melden, dass es für die Ihnen von Frankreich zugesagte Stilllegung des Atomkraftwerks Fessenheim noch keinen Termin gebe, aber in Paris wurde doch sicherlich über eine Perspektive gesprochen, in welchem Zeitrahmen sich die Schließung bewegen könnte?
Ministerpräsident Kretschmann: Ich habe mich sehr gefreut über die Zusage von Umweltministerin Royal, dass die Stilllegung von Fessenheim kommen wird. Die französische Regierung hat inzwischen sehr konkrete Pläne für die Abschaltung. Im Juli hat sich die französische Regierung mit der EDF auf die Ausgleichszahlungen für die Stilllegung geeinigt. Der Stilllegungsantrag durch die EDF soll im Dezember 2016 vorliegen und auch die Bescheidung des Antrags durch die Regierung soll noch in diesem Jahr erfolgen. Allerdings wird der Ausstieg nicht wie ursprünglich von Präsident Hollande angekündigt bis zum Ende seiner Amtszeit im kommenden Frühjahr 2017 erfolgen. Wir gehen davon aus, dass das Atomkraftwerk spätestens 2018 abgeschaltet wird.
france-blog.info: Dem Vernehmen nach haben Sie mit der französischen Regierung auch über die Flüchtlingskrise gesprochen. Wird es in diesem Bereich eine Kooperation zwischen Baden-Württemberg und Frankreich oder den grenznahen Regionen geben?
Ministerpräsident Kretschmann: Mit Außenminister Ayrault und Premierminister Valls habe ich mich über die Flüchtlingskrise und deren Auswirkungen auf Europa unterhalten. Dabei waren wir uns einig, dass die Sicherung der Außengrenzen und ein gemeinsames europäisches Asylrecht von grundlegender Wichtigkeit sind.
france-blog.info: Seit Juni letzten Jahres bewegt uns die Absicht des Vereinigten Königreichs aus der EU auszutreten. Haben Sie mit der französischen Regierung über den angekündigten Brexit gesprochen?
Ministerpräsident Kretschmann: Ja, ich habe mich mit Außenminister Ayrault über die Lage Europas nach dem Brexit unterhalten und wir teilen beide die Auffassung, dass die tiefe Krise Europas nur durch ein Mehr an Europa gemeistert werden kann. Wir müssen die großen europäischen Fragen gemeinsam beantworten, etwa eine Strategie entwickeln für eine gemeinsame Außenpolitik, eine gemeinsame Flüchtlingspolitik oder eine koordinierte Terrorbekämpfung. Wir benötigen ein weniger im Kleinen. Die EU soll sich nicht um viele, sondern um die richtigen, die großen Aufgaben kümmern. Ob wir ein Pint trinken oder einen halben Liter ist nicht eine Frage der EU.
france-blog.info: Wie ist Ihre Position zum Brexit? Glauben Sie, dass Premierministerin May tatsächlich den Artikel 50 aktivieren wird?
Ministerpräsident Kretschmann: Meiner Ansicht nach erschüttert der bevorstehende Austritt eines der größten und wirtschaftsstärksten Länder der Union Europa in seinen Grundfesten. Der Tag der Entscheidung für den Brexit, der 23. Juni 2016, war ein bitterer Tag für die europäische Einigung und auch ein bitterer Tag für Baden-Württemberg. Unsere Beziehungen zu Großbritannien sind eng, unsere wirtschaftliche Kooperation ist immens. Großbritannien ist zudem eine der führenden Wissenschaftsnationen und ein enger und sehr wichtiger Partner für unsere Forscher und Studierenden.
Erst vor wenigen Tagen hat Premierministerin May klar gemacht, dass sie den Artikel 50 der EU-Verfassung, der den Austrittsprozess aus der Europäischen Union einleitet, vor Ende März des kommenden Jahres aktivieren wolle. Ich gehe davon aus, dass sie daran festhalten und das britische EU-Austrittsverfahren im nächsten Jahr einleiten wird.
france-blog.info: Wie schätzen Sie den Stand der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Baden-Württemberg und Frankreich ein?
Ministerpräsident Kretschmann: Baden-Württemberg weist von allen Bundesländern die engste wirtschaftliche Verflechtung mit Frankreich auf. Zwischen baden-württembergischen und französischen Unternehmen haben sich enge Formen der Zusammenarbeit entwickelt, beispielsweise in der Automobil- und Zuliefererindustrie, die unsere beiden Länder wie keine andere Industrie verbindet.
Auch das Handelsvolumen ist beachtlich. Frankreich ist unser wichtigster Wirtschaftspartner in Europa und drittwichtigster Außenhandelspartner weltweit. 2014 exportierte Baden-Württemberg nach Frankreich Waren im Wert von 14 Milliarden Euro. Knapp acht Prozent unserer Waren werden dorthin exportiert – vor allem Maschinen, Autos und Fahrzeugteile. Gleichzeitig kommen ebenfalls rund acht Prozent aller importierten Waren aus dem Nachbarland, auch hier handelt es sich vor allem um Fahrzeuge und Fahrzeugteile, chemische Produkte und Maschinen. Nur die Schweiz und die Niederlande liegen beim Import vor Frankreich.
Neben den Warenströmen sind auch unsere Arbeitsmärkte am Oberrhein eng verflochten. Rund 25.000 Menschen pendeln täglich über den Rhein hinweg. Dieser grenzüberschreitende Arbeitsmarkt ist uns ganz besonders wichtig, nicht zuletzt weil er den Menschen und den Unternehmen gleichermaßen nutzt. Denn während wir auf der einen Rheinseite in Baden-Württemberg den demografischen Wandel immer stärker spüren und dringend Fachkräfte benötigen, ist bei unseren Nachbarn in Frankreich fast jeder vierte Jugendliche ohne Arbeit.
france-blog.info: 1988 hat sich Baden-Württemberg mit den Regionen Katalonien, Lombardei und Rhône-Alpes zu den „vier Motoren“ zusammengeschlossen. Spielt dieses Netzwerk heute noch eine Rolle?
Ministerpräsident Kretschmann: Die Gründungsväter der Vier Motoren für Europa haben 1988, in einer Zeit intensiver europäischer Einigungsprozesse und parallel zur Schaffung des europäischen Binnenmarkts, die Bedeutung der regionalen Ebene im europäischen Integrationsprozess erkannt. Die Vier Motoren verstehen ihre Kooperation somit auch als Beitrag zur Entwicklung der EU. Im aktuell kritischen Zustand der EU kommt der bürgernahen Arbeit auf regionaler Ebene eine besondere Bedeutung zu. Die bewährte und gefestigte Partnerschaft der Vier Motoren kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Weiterhin bündeln die Vier Motoren ihre Interessen als wirtschafts- und forschungsstarke Regionen in Europa und arbeiten im Rahmen von konkreten Projekten zusammen, etwa im Bereich regionaler Klimastrategien, bei der Elektromobilität oder zum Thema Industrie 4.0.
france-blog.info: Das Elsass und Baden-Württemberg pflegen eine „grenzübergreifende Ausbildung“ im Rahmen der beruflichen Bildung. Wird dafür genug geworben?
Ministerpräsident Kretschmann: Jugendarbeitslosigkeit und Fachkräftemangel gebieten, dass wir nach immer neuen Wegen suchen und jungen Menschen die Chancen der beruflichen Mobilität näher bringen, sie so früh wie möglich interkulturell sensibilisieren und ihnen dadurch den Einstieg in das Berufsleben sowohl innerhalb als auch außerhalb ihres Heimatstaats erleichtern. Es ist richtig, dass eine der größten Herausforderungen der grenzüberschreitenden Ausbildung sicherlich darin besteht, diese Option bei den Jugendlichen, Eltern und Lehrern flächendeckend bekannt zu machen.
Ich denke, hier sind wir inzwischen auf einem guten Weg. In diesem und im letzten Schuljahr haben zusammen genommen rund 130 Auszubildende einen grenzüberschreitenden Ausbildungsvertrag abgeschlossen. Und ich bin der Überzeugung, dass es uns mit gezielten Projekten wie etwa dem kürzlich begonnenen grenzüberschreitenden INTERREG-Projekt „Erfolg ohne Grenzen“ gelingen wird, die Möglichkeiten und Chancen der grenzüberschreitenden beruflichen Bildung noch stärker und gezielter zu bewerben.
Klar ist aber auch: Über Jahrzehnte unabhängig voneinander entwickelte Systeme lassen sich nicht von heute auf morgen zusammenführen. Es gibt noch immer deutliche Hürden wie etwa Unterschiede im Bewerbungsverfahren oder die Vergleichbarkeit der Qualifikationen und Abschlüsse. Tatsächlich hat der Prozess also erst begonnen. Ich hoffe jedoch für die kommenden Jahre mit einer steigenden Dynamik.
france-blog.info: Kann Ihrer Meinung nach der Großraum Oberrhein mit der 184 km langen Grenze zu Frankreich eigene Impulse zur Gestaltung der deutsch-französischen Beziehungen beitragen?
Ministerpräsident Kretschmann: Die deutsch-französische Beziehung ist nicht nur die enge Beziehung zweier Staaten, sie ist zugleich das Herzstück und der Motor der Europäischen Union und der Europäischen Einigung als Idee. Europa kann jedoch nur Erfolg haben, wenn es von seinen Bürgerinnen und Bürgern vor Ort mitgetragen und gelebt wird. Das Grenzgebiet am Oberrhein ist dafür geradezu exemplarisch. Es zeichnet sich durch die vielfältigen Verflechtungen zwischen Deutschland und Frankreich aus. Hier begegnen sich die Menschen beider Länder im Alltag, die Idee des vereinten Europas wird hier ganz konkret. Nirgendwo im deutsch-französischen Raum gibt es ein derart dichtes Netz an Projekten und Partnerschaften zwischen Städten, Gemeinden, Verbänden, Vereinen und Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Gesellschaft.
Im Oberrheingebiet haben wir in den vergangenen Jahren bereits zahlreiche Initiativen angestoßen, die auch als Impulse für die deutsch-französischen Beziehungen im Allgemeinen verstanden werden können. Ich denke dabei etwa an die bereits genannte grenzüberschreitende berufliche Bildung zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und Fachkräftemangel, an die Einrichtung der ersten gemeinsamen deutsch-französischen Kindertagesstätte, an die Gründung des European Campus als trinationalem Forschungs- und Wissenschaftszentrum mit internationaler Ausrichtung, an die Wissenschaftsoffensive, mit der anwendungsnahe deutsch-französische Forschungsprojekte gefördert werden oder auch an die gemeinsame deutsch-französische Bewerbung um das Europäische Kulturerbe-Siegel für die KZ-Gedenkstätte Natzweiler-Struthof – um Ihnen nur ein paar wenige Beispiele zu nennen.
france-blog.info: Im Februar dieses Jahres haben Sie in einer Grundsatzrede gefragt: Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Darf ich Sie fragen. Was können Deutschland und Frankreich für den Zusammenhalt in Europa tun? Und welche Rolle kann dabei Baden-Württemberg übernehmen?
Ministerpräsident Kretschmann: Ich wünsche mir ein Europa das föderal, multilingual und subsidiär ist und ich bin mir sicher, dass Frankreich wie Deutschland entscheidend dazu beitragen können, diesem Ziel näher zu kommen.
france-blog.info: Eine letzte Frage. Wie würden Sie einer Schulklasse die Notwendigkeit erklären, die französische Sprache zu erlernen?
Ministerpräsident Kretschmann: Ich würde sagen, Französisch zu lernen bedeutet in erster Linie, eine schöne, reiche und melodische Sprache zu lernen. Nicht umsonst wird Französisch oft die Sprache der Liebe genannt. Französisch ist außerdem eine Sprache, die überall auf der Welt gesprochen wird. Wer Französisch spricht, kann sich weltweit mit mehr als 200 Millionen Menschen auf fünf Kontinenten unterhalten.
Für uns alle in Baden-Württemberg ist Frankreich aber auch der größte Nachbar mit der längsten gemeinsamen Grenze. Und die Sprache der Nachbarn zu sprechen ist eine schöne Sache, für das gegenseitige Verständnis, aber auch aus ganz praktischen Gesichtspunkten – etwa wenn man eine Reise ins Nachbarland unternehmen, in Frankreich arbeiten oder einfach auf der anderen Seite der Grenze einkaufen will.
france-blog.info: Herr Ministerpräsident, wir danken Ihnen für Ihre Antworten
Foto: Staatsministerium Baden-Württemberg