Wir gratulieren Alfred Grosser zum 98. Geburtstag
1. Februar 2023 von H. Wittmann
Unsere Redaktion gratuliert Professor Alfred Grosser sehr herzlich zu seinem 98. Geburtstag.
Wir sind uns im Herbst 1976 zum ersten Mal im Institut d’Études politiques in Paris im Rahmen seiner Vorlesung über Deutschland und gleich am nächsten Tag “Introduction à l’étude de la vie politique” begegnet. Alfred Grosser ist Zeitzeuge und Mittler. Immer wieder erklären, den Standpunkt des Anderen zur Kenntnis nehmen, verstehen und vermitteln. Damals hatte ich dieses Taschenbuch Wider den Strom: Aufklärung als Friedenspolitik,
1976, bei mir, dessen Titelblatt Alfred Grosser bei seiner Rede als Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 1972 zeigte.1948 gründete er zusammen mit Emmanuel Mounier u.a. unter ihnen Joseph Rovan das > Comité français d’échanges avec l’Allemagne nouvelle und bekommt damit einen entscheidenden Einfluss auf die deutsch-französische Wiederannäherung nach dem Zweiten Weltkrieg.
“Erklären, immer wieder erklären, geduldig erklären…” hat Alfred Grosser uns in seinen Vorlesungen eingeschärft. Die deutsch-französischen Beziehungen, die er seit 1948 als Akteur, Publizist und Hochschulprofessor so nachdrücklich mitgeprägt hat, benötigen auch heute den ständigen Austausch. Aber heute ist das Wunder nach drei blutigen Kriegen längst vollbracht: Kein anderes Staatenpaar in der Welt unterhält so enge, so vielfältige und so freundschaftliche Beziehungen wie Deutschland und Frankreich: Es gibt kein ein anderes Länderpaar auf der Welt, das eine so enge Verflechtung miteinander aufweist, wie Frankreich und Deutschland. Die Schulaufgabe: “Erstellt bis morgen eine Liste der deutsch-französischen Organisationen”, ist von einer Klasse bis morgen nicht lösbar, da müsste man schon eine ziemlich lange Unterrichtsreihe ansetzen, um halbwegs vollständig die gesamte Zahl aller deutsch-französischen Vereinigungen, Städtepartnerschaften, Organisationen, Vereine, Institute und Institutionen, Gremien, Verbände u.s.w. aufzulisten…” > Macht doch mal eine Liste aller deutsch-französischen Organisationen… – Unser Blog mit seinen 4000 Artikeln zeigt davon nur einen kleinen Ausschnitt. Die Inspiration zu diesem Blog verdankt unsere Redaktion der Erinnerung an die Vorlesungen von Alfred Grosser im Institut d’Etudes Politiques (Sciences Po) in Paris.
Oft haben wir nach den Vorlesungen zusammen gesprochen. Zwei Jahre lange habe ich bei ihm Vorlesungen gehört, u. a. auch die überfüllten Vorträge zu Fragen der aktuellen Politik. Immer wenn er wie soft nach Deutschland reiste, wünschte er auch eine Begegnung in einer Schule, um mit Schülern zu diskutieren: > Diskussionsrunde mit Alfred Grosser im Rückert-Gymnasium, Berlin – 11. Februar 2015.
> Alfred Grosser parle de Notre-Dame de Paris 17. April 2019
Am 3. Juli 2014 hat er im Bundestag gesprochen > Gedenkstunde im Bundestag: 1914-1918 mit Alfred Grosser
Am 1. Januar 2019 erhielt der das Großkreuz der Ehrenlegion. Die Verleihung durch Staatspräsident Emmanuel Macron : > Alfred Grosser : Herzlichen Glückwunsch zum Großkreuz der Ehrenlegion – 25. Juni 2019.
Ing Kolboom hat an das > Interview der Deutschen Welle mit Alfred Grosser, “…mit diesem großen deutsch-französischen Brückenbauer vom 11.11.2018, hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs” erinnert.
Wir zitieren hier einen Brief (veröffentlicht auf der Website des > Alfred Grosser Schulzentrums in Bad Bergzabern), den Alfred Grosser 1980 an Neusser Gymnasiasten gerichtet hat:
Liebe Neusser Gymnasiasten!
Es antwortet Euch ein glücklicher Mensch, der Euch in ein paar wenigen Sätzen andeuten möchte, wie das so mit der Freude am Leben gekommen ist.
Meine erste „Erfahrung“ war, als kleiner Judensohn in einer Frankfurter Schule von achtjährigen Kameraden so verprügelt zu werden, daß ich ins Krankenhaus mußte. Geistige Spuren sind nicht geblieben – außer der Überzeugung, man muß Verführte aufklären, denn die Schuldigen sind die Verführer. Mit 9 kam ich nach Frankreich und habe mich schnell eingelebt, habe aber dabei nie den Kontakt zur deutschen Sprache und Kultur verloren: Man soll offen sein für jeden geistigen Reichtum, auch wenn im Namen eines Volkes Massenmorde vollbracht werden.
Die grausamen Seiten der Kriegszeit haben mich zweierlei gelehrt. Als ich erfuhr, daß ein Teil meiner Familie in Auschwitz umgekommen war, entdeckte ich, daß ich nie eine Menschengruppe (die Deutschen) für kollektivschuldig halten würde, daß ich aber nach dem Krieg für den Aufbau eines anderen Deutschlands mitverantwortlich sein würde, eben weil ich unter dem verbrecherischen gelitten hatte. Und das Gefühl der Mitverantwortlichkeit, das zum Mitwirken führt, ist beglückend.
Und dann habe ich in Marseille, nach einem Bombenangriff, so viele Leichen und verkrüppelte Menschen gesehen, daß ich seitdem alle Dinge im Vergleich zum Tod und zum Elend sehe. Das Glücklichsein erreicht man auch durch den Vergleich (oft mit schlechtem Gewissen!) mit denen, die weniger haben.
Sich eifersüchtig mit denen zu vergleichen, die mehr haben, macht unglücklich. Übrigens: Neid wie Haß, wie Bitterkeit bedeuten Zeitverlust. Denn es bleibt uns wenig Zeit bis zum Tode – und diese Zeit sollten wir nicht mit unnützen Dingen vergeuden!
In späteren Jahren habe ich dann viel äußeres Glück gehabt – im Berufsleben und im Privatleben. Meine Mutter war zugleich meine Mitarbeiterin in der deutsch-französischen Arbeit bis zu ihrem Tod 1968. Ich habe 1959 eine meiner Doktorandinnen geheiratet (die Dissertation ist nie fertig geworden …), und unser Honigmond ist noch nicht beendet. Unsere vier Söhne (19, 16, 11 und 10 Jahre) bringen Freude und Sorgen (je älter sie werden, desto mehr Sorgen …), aber das Grundelement der Freude ist bis jetzt geblieben, weil der gegenseitige Respekt zusammen mit der Liebe geblieben ist. (Übrigens, was ist Liebe? U.a. daß man sich darauf freut, später zusammen alt werden zu dürfen!)
Ich bin mir meiner Privilegien wohl bewußt: Ich stamme aus einer privilegierten Familie, die Kultur und Selbstsicherheit zu vermitteln hatte. Ich habe einen schönen Beruf – und bin dabei sogar Beamter, d.h. daß ich nicht arbeitslos werden kann. Ich bin gesund, und Frau und Söhne sind unversehrt. Aber es geht auch um eine Grundeinstellung (für die ich wenig kann: sie ist weitgehend angeboren; ich versuche aber doch, sie durch Selbstkontrolle aufrecht zu erhalten): Zufrieden sein, ohne sich zufriedenzugeben, so viel Freude wie möglich zu empfangen und zu geben …
So, nun macht mit dieser Predigt, was ihr wollt …
Herzliche Wünsche für‘s Abitur
Alfred Grosser
Deussen Christiane, Miard-Delacroix Hélène, Mion Frédéric et al., « Hommage à Alfred Grosser à l’occasion de son 90e anniversaire », Allemagne d’aujourd’hui, 2015/2 (N° 212), p. 53-61. DOI : 10.3917/all.212.0053. > www.cairn.info/revue-allemagne-d-aujourd-hui-2015-2-page-53.htm
Auf unserem Blog:
> Brexit, Europe, Paris et Berlin: Alfred Grosser répond à nos questions – 19. April 2019
> Alfred Grosser parle de Notre-Dame de Paris 17. April 2019
Über sein Leben > Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2011
> Die deutsch-französischen Beziehungen und die Europapolitik. Ein Gespräch mit Alfred Grosser – 13. September 2013